Über die Mauer

von Joachim Acker

Tief liegen die grauen Regenwolken über dem Tal, die Straße glänzt nass, Vertiefungen haben sich mit Wasser gefüllt, die herabfallenden Tropfen bilden kleine Kreise. Am Schreibtisch sitzend, beginne ich meinen Lieblingstabak zu schneiden, vorsichtig, denn das Messer ist sehr scharf. Ich lasse die kleinen Würfelchen in die Pfeife rieseln und als der Tabak dann glimmt schaue ich wieder zum Fenster hinaus. Eine Amsel lässt sich für einen kurzen Zwischenstopp auf dem Vogelbeerbaum nieder, dann fliegt sie weiter, zwei Spatzen streiten sich lautstark um irgendetwas und aus der Ferne hört man das Gekecker eines Buntspechtes.

Mein Blick fällt auf die kleine Bildersammlung neben meinem Schreibtisch. Auf den Rahmen hat sich Staub angesammelt, ein Bild nach dem Anderen herunternehmend wische ich ihn weg. Nun halte ich ein kleines Bildchen in der Hand, befreie es vom Staub, mit Wasserfarben gemalt zeigt es eine, aus groben Bruchsteinen errichtete, graue Mauer, eine hölzerne Leiter lehnt daran, rechts und links von ihr zwei hochgewachsene, blassrosane Fingerhut-Blumen.
Meine Pfeife war ausgegangen und ich entzünde sie von neuem, Tabakrauch umhüllt das kleine Bildchen, es verschwimmt etwas vor meinen Augen, wird dann wieder klar.

Was wohl hinter der Mauer sein mag? frage ich mich. Ich gehe auf die Leiter zu, prüfe ob sie fest und sicher genug steht und steige dann Sprosse für Sprosse hoch, sehe über die Mauer. Eine grüne Wiese liegt vor mir, in der Ferne einige Bäume. Schafe schauen neugierig zu dem Fremden hin der da so plötzlich aufgetaucht ist. Auf der anderen Seite lehnt ebenfalls eine Leiter, einladend sieht sie aus, so als wollte sie sagen: " Komme herüber, hab keine Angst, es geschieht dir nichts Böses" Und ich folge dieser stummen Einladung, steige über die Mauer und stehe nun mitten in der Wiese, feucht vom Regen. Die Schafe äugen noch einmal kurz zu mir her, dann fressen sie weiter, der Fremde kümmert sie nicht.

Der leichte Wind trägt mir von irgendwoher eine wehklagende Harfenmelodie zu, ich lausche gebannt diesem Klang und mir kommt es vor als ob er mich ruft. Und ich folge diesem Ruf, gehe auf das kleine Wäldchen zu, denn aus dieser Richtung kommt diese klagende, sehnsuchtsvolle Weise. Näherkommend sehe ich ein uraltes Steingrab, überschattet von einer mächtigen Eiche, die ihre knorrigen Äste, so als ob sie es schützen wollte, über das mächtige Steingelege hält. Daneben, auf einen einzeln daliegenden Felsblock sitzt ein alter Mann, eingehüllt in einen weiten Umhang, sein graues Haar bedeckt ein breitkrempiger Hut der das faltige, scharfkantige Gesicht in Schatten hüllt.

Der Alte sieht mich kommen, beendet seine Melodie, legte die Harfe zur Seite und winkt mir mit einer Handbewegung ein Näherkommen zu. Der freundlichen Einladung folgend setze ich mich neben ihn, krame aus meiner Tasche eine frische Pfeife hervor und fülle sie unter den erstaunten Augen des Alten. Was das sei, fragte er mich erstaunt und ich gab ihm Antwort: ""Tabak und Pfeife, kennst du sowas gar nicht?" fragte ich ihn dann ungläubig. ""Nein, noch niemals sah ich so etwas" war seine Antwort, begleitet von einem Kopfschütteln ob der seltsamen Gebräuche des Fremden. Als ich mein Streichholz entzünde erschrickt er und macht, so als wolle er bösen Zauber abwehren, das Zeichen des Kreuzes.
Und dann begann er zu erzählen, wohl froh darüber jemanden getroffen zu haben mit dem er reden kann.

Von einer glücklichen Jugend in den schottischen Highlands, von der Jagd auf Hasen und Moorhühner, von der harten Arbeit auf den Feldern. Von seiner Liebe zur Musik, zum Harfenspiel.

Und er erzählte wie er einst als junger Bursche in der Nähe eines Schlosses am Bach saß und Harfe spielte und eine wunderschöne Frau auf einem weißem Pferd vorbeiritt. Sie war so schön, dass er glaubte, sie sei die Himmelskönigin, aber die Schöne verneinte und sagte dass sie die Elfenkönigin sei und er solle für sie spielen, die schönsten Weisen die er auf seiner Harfe hervorbringen kann. Aber wenn er sie küsst dann sei er für sieben Jahre ihr verfallen und müsse ihr dienen.

Und er tat es, spielte wie noch nie in seinem Leben, ließ die Harfe erklingen dass selbst die Vögel in den Bäumen verstummten, nicht einmal Orpheus hätte so schön gespielt wie er. Und am Ende des Spiels küsste er die Elfenkönigin und ging mir ihr ins Land der Elfen, blieb bei ihr und diente ihr sieben Jahre. Und diese Jahre waren die glücklichsten seines Lebens, aber sie gingen vorbei, so wie alles schöne, aber auch alles hässliche im Leben vorbei geht.
Seit dieser Zeit ist er auf der Wanderschaft, unstet und ruhelos umherstreifend, um irgendwo die Elfenkönigin wiederzusehen, um sie vielleicht noch einmal küssen zu können mit diesen alt gewordenen Lippen, um noch einmal so glücklich zu sein wie damals als er ein junger Bursche war.

Er schwieg nun und sah mit seinen alten Augen irgendwohin in die Ferne, zurück in das Vergangene, längst Gewesene und doch nie Vergessene. Auch ich schwieg, rauchte ruhig meine Pfeife und dachte nach über das was mir erzählt wurde.
Der Alte wickelte seine Harfe sorgfältig in ein Tuch, legte mir zum Abschied die Hand auf die Schulter und ging ohne noch ein Wort zu sagen davon. "Wie heißt du?" rief ich ihm hinterher. "Man nennt mich Tom den Reimer" kam die Antwort, dann sah ich den Alten nicht mehr.

Ich löse den Blick von dem Bild in meiner Hand, wische mir mit der Hand über die Augen, für ein paar Augenblicke hat es mich in eine andere Welt, in eine andere Zeit entführt und dabei verzaubert.

Nun bin ich wieder zurückgekehrt in mein vertrautes Tal, in mein Haus, zünde meine Pfeife an und sehe zum regennassen Fenster hinaus.

 

Thomas der Reimer
Altschottische Ballade übertragen von Theodor Fontane

Der Reimer Thomas lag am Bach,
Am Kieselbach bei Huntly Schloß.
Da sah er eine blonde Frau,
Die saß auf einem weißen Roß.

Sie saß auf einem weißen Roß,
Die Mähne war geflochten fein,
und hell an jeder Flechte hing
Ein silberblankes Glöckelein.

Und Tom der Reimer zog den Hut
Und fiel auf's Knie, er grüßt und spricht:
"Du bist die Himmelskönigin!
Du bist von dieser Erde nicht!"

Die blonde Frau hät an ihr Roß:
"Ich will dir sagen, wer ich bin;
Ich bin die Himmelsjungfrau nicht,
Ich bin die Elfenkönigin!

"Nimm deine Harf und spiel und sing
Und laß dein bestes Lied erschalln,
Doch wenn du meine Lippe küßt,
Bist du mir sieben Jahr verfalln!"

"Wohl! sieben Jahr, o Königin,
Zu dienen dir, es schreckt mich kaum!"
Er küßte sie, sie küßte ihn,
Ein Vogel sang im Eschenbaum.

"Nun bist du mein, nun zieh mit mir,
Nun bist du mein auf sieben Jahr."
Sie ritten durch den grünen Wald
Wie glücklich da der Reimer war!

Sie ritten durch den grünen Wald
Bei Vogelsang und Sonnenschein,
Und wenn sie leicht am Zügel zog,
So klangen hell die Glöckelein.