Der Blinde

von Joachim Acker

 

Der Tag war heiß und sehr schwül gewesen und jetzt, da der Abend nahte, zogen sich im Westen schwarze Wetterwolken zusammen. Sie sahen bedrohlich aus, Unheil bringend, wie sie sich da in den Himmel emportürmten, wie schwarz gefärbte Monster die bereit waren zuzuschlagen und zu zerstören. Die gelblichen Ränder an den Wolken deuteten auf Hagel hin. Hoffentlich bleiben wir davor verschont, dachte ich. Jetzt wo die Ernte auf den Feldern nahezu reif ist zum Schneiden, auf den Obstbäumen reifen die Früchte, in den Weinbergen gehen die Trauben ihrer Vollendung entgegen, Hagel wäre da das Furchtbarste was man sich vorstellen kann.
Eine Windbö fuhr durch die Zweige des Vogelbeerbaumes, die schon roten Früchte tanzten eine Weile einen wilden Reigen, dann kehrte wieder Ruhe ein.

Ich stand am Fenster meiner Stube und schaute besorgt in die beginnende Dämmerung hinaus, dann setzte ich mich wieder an meinen Schreibtisch und stopfte mir eine frische Pfeife mit meinem Lieblingstabak.
Als ich dann rauchend dasaß, erinnerte ich mich einer Begebenheit die sich erst vor wenigen Tagen abspielte.

Ich kam vom Einkaufen und eilte, tief in Gedanken versunken und meine Umwelt nicht mehr so bewußt wahrnehmend, über den Marktplatz und stieß mit einem sehr alten Mann zusammen. Statt mich für den Rempler zu entschuldigen, fauchte ich den Alten an er solle doch besser aufpassen wohin er geht.
Ich schaute ihn grimmig an um meinen Worten den nötigen Nachdruck zu verleihen und sah in seine Augen. Sie waren leer und schauten ins Leere, durch mich hindurch als wäre ich nicht vorhanden.
Schauten ins Irgendwohin oder in eine Welt und in eine Zeit, zu der ich keinen Zugang hatte. Der alte, grauhaarige, ärmlich gekleidete Mann, auf einen krummen Wanderstock gestützt, war blind.
Beschämt ob meiner Rüpelhaftigkeit stotterte ich eine Entschuldigung, die er, mit dem Kopf nickend, annahm. Dann fragte mich der Fremde, ob ich ihn zum Brunnen führen könnte den er da plätschern hörte, er hat Durst und möchte etwas trinken. Ich tats und nachdem der Alte getrunken hatte, setzten wir uns zusammen auf die Bank neben dem Brunnen. Er zog aus seiner Umhängetasche eine Pfeife und begann sie mit Tabak, den er aus einem alten Lederbeutel entnahm, zu stopfen.
Und ob ihr es mir glaubt oder nicht, aber so eine herrliche Pfeife habe ich in meinem Leben noch niemals gesehen. Eine Form, leicht geschwungen und von einer Eleganz, daß ich große Augen bekam. Und dazu eine Maserung vom Allerfeinsten, wunderbar ebenmäßig. Mit meinen kümmerlichen Worten schiergar nicht zu beschreiben, man muß sie einfach gesehen haben. Es war die Tabakpfeife schlechthin, der Gipfelpunkt.
Der Alte mußte mein Erstaunen bemerkt haben den er reichte mir die Pfeife damit ich sie besser betrachten konnte. "Wundervoll" war das einzige Wort das ich herausbrachte.
"Komm", sagte der fremde Wanderer, "Ich erzähle dir die Geschichte dieser Pfeife. Natürlich nur wenn du sie hören willst." Natürlich wollte ich das und dann saßen wir zusammen auf der Bank, rauchend und ich der Erzählung des Alten lauschend.

"Vor vielen, vielen Jahren zog ich als wandernder Handwerksgeselle und nebenbei auch noch Pfeifenmacher durch das Land, war mal in dieser Stadt, dann in jener. Machte hier und dort Pfeifen, reparierte Mundstücke und was sonst noch so alles anfällt. Nun, eines Tages machte ich draußen auf dem Feld unter einer alten Wettereiche, die ihre zackigen Äste trotzig dem Himmel entgegenreckte, Rast. Ich hatte ein Feuer entzündet und briet darin eine Wurst, die ich mir im letzten Dorf durch das ich kam, gekauft hatte.
Plötzlich vernahm ich neben mir ein fürchterliches Husten und Keuchen, erschrocken drehte ich mich zur Seite und sah einen Mann vom Kleinen Volk der neben mir stand. Was mir denn einfiele hier ein Feuer zu machen, der ganze Rauch würde in ihr unterirdisches Reich ziehen und dort alles einnebeln und verqualmen, außerdem würde es fürchterlich stinken.
Eine dürftige Entschuldigung stammelnd löschte ich das Feuer, zum Glück für mich war die Wurst schon fertig.
Dann, als ich gegessen hatte, dem Kleinen gab ich auch etwas ab davon, fragte er mich nach meinem Woher und Wohin und was ich machen würde. Als ich ihm sagte, dass ich ein Pfeifenmacher sei, freute er sich sehr und bat mich, ihm eine meiner Pfeifen zu zeigen. Ich tats und wortlos gab er sie mir wieder zurück. Ob ich das Handwerk des Pfeifenbauens bei ihnen erlernen möchte, fragte er mich. Und ohne lange zu zögern willigte ich ein, wußte ich doch daß die Pfeifen des Kleinen Volkes die Besten waren, die es unter der Sonne gab.
Fragt mich nun aber bitte nicht warum der Alte vom Kleinen Volk mir dieses Angebot machte, ich weiß es nicht. Vielleicht gefiel ich ihm, vielleicht fand er aber meine Pfeifen so entsetzlich gräßlich, daß er Mitleid mit mir und meinen Fertigkeiten hatte. Aber es war so und ich ging ohne zu zögern oder lange darüber nachzudenken auf seinen Vorschlag ein.
Zwei Jahre blieb ich im Reich des Kleinen Volkes und lernte dort alles was es nur zu lernen gab um gute und brauchbare Pfeifen herstellen zu können. Ich erkannte da sehr bald, daß meine eigene Kunst sehr stümperhaft und einfältig war. Aber ich lernte und gab mir Mühe und mein Lehrmeister war sehr zufrieden mit mir. Diese Pfeife hier ist mein Gesellenstück geworden, eine der schönsten Pfeifen, die ich jemals in meinem Leben schuf.
Eines Tages war dann die Zeit des Lernens vorüber und der Alte, der auch mein Lehrmeister war, führte mich wieder hinaus in die Welt der Menschen.
Er sagte dann zu mir, daß ich nun meinen Weg gehen sollte, hinaus in die Welt um ein berühmter Pfeifenkünstler zu werden. Und das wurde ich dann auch. Mein Name wurde ein Markenzeichen, ein Symbol für die perfekte Tabakspfeife. Heiß begehrt und teuer bezahlt waren meine Schöpfungen und ich wurde berühmt.

Aber mit der Berühmtheit kam auch der Hochmut und die Überheblichkeit. Im Laufe der Zeit hielt mich für den Allerbesten unter der Sonne, verlor langsam aber sicher den Boden unter den Füßen, entfernte mich immer mehr von der Realität. Herrisch und anmaßend wurde ich, ließ nichts anderes mehr gelten als das eigene Werk. Mir wurde nicht einmal gewahr, daß ich innerlich Schaden nahm, daß meine Seele Risse bekam, daß ich ein anderer Mensch wurde.
Beinahe zwangsläufig kam es dann wie es kommen mußte, alle meine Freunde sagten sich nach und nach von mir los, bis ich dann ganz alleine war mit meinem Ruhm. Und als mir dann eine schlimme Krankheit mein Augenlicht nahm, wurde es einsam um mich, ich konnte keine Pfeifen mehr erschaffen, mein Lebensinhalt war mir genommen. Nichts ist vergänglicher als der Ruhm, das merkte ich nun sehr deutlich. Und so begann nun mein Abstieg, ich fiel und es war niemand da, der mich aufgefangen hätte. Wein und Bier wurden zu meiner letzten Zuflucht, die Trunkenheit mein Begleiter und dann irgendwann die endlose Wanderschaft als Heimatloser".
Hier hielt der Alte inne und schwieg tief in Gedanken versunken.

Meine Pfeife war nun ausgeraucht und ich schüttelte sie aus. Dann fragte ich den Fremden nach seinen Namen. Er nannte ihn mir und mir fiel beinahe meine Pfeife aus der Hand, denn diesen Namen kannte ich, er war unter den Pfeifenrauchern zur Legende geworden.
Der Wanderer hatte seine Pfeife ebenfalls ausgeraucht und schüttelte sie aus, wog sie eine Weile in der Hand und gab sie mir dann mit den Worten: "Nimm diese Pfeife bitte als Andenken an mich. Meine Zeit geht zu Ende, ich fühle es. Und ich möchte nicht daß diese Pfeife in fremde und unwissende Hände gerät. Nein, danke mir nicht. Ich habe dir zu danken das du mir zugehört hast." Dann sagte er noch lächelnd zu mir: "Kauf dir mal nen anderen Tabak, dieser hier riecht ja abscheulich."
Mit diesen Worten ging er, mit dem Stock sich den Weg ertastend, davon. Ich sah ihm nach bis er hinter einer Hausecke verschwand.
Nie wieder sah ich ihn oder hörte etwas von diesem größten Meister der Pfeifenbaukunst. Ich weiß nicht wo sich sein Lebensweg, der ihn erst in die Höhe und dann in die Tiefe führte, erfüllte.
Seine Pfeife aber steht auf meinem Pfeifenregal, niemals rauchte ich aus ihr. Zu groß war die Scheu und die Ehrfurcht vor diesem herrlichen Stück. Und der Respekt vor dem, der so etwas Herausragendes erschuf.
Wenn ihr mich mal besuchen kommt, dann zeige ich euch gerne die Pfeife und ihr könnt sie dann bewundern und bestaunen.

Das Wetter, das drohend und furchterregend den Himmel beherrschte und düster verdunkelte, war weitergezogen. Wir waren verschont geblieben.