Hinter der Brombeerhecke

von Joachim Acker

 

 

Das scharfgeschliffene Messer durchschnitt mühelos und leicht den Tabakwürfel, dünne Scheiben lagen auf der Schneidunterlage die ich dann sorgfältig in Würfelchen zerteilte. Mit Bedacht wurden sie in die Pfeife gefüllt, dabei klopfte ich immer wieder mit dem Finger gegen die Wand des Pfeifenkopfes damit sie sich besser setzten, und schließlich angezündet. Als die ersten Rauchwolken die Stube durchzogen und mich der köstliche Duft meines Lieblingstabaks umgaben, lehnte ich mich behaglich in meinem Stuhl zurück und genoss die ersten Züge aus der Pfeife. Das Leben kann schon schön sein.

Der morgendliche frühherbstliche Nebel hatte sich gelichtet, die Sonne schien und ließ die Reste der Nebelfeuchtigkeit aufblinken und glitzern. Die Beeren der Eberesche waren nun schon tiefrot und eine willkommene Futterquelle für die Amseln die zu dritt oder viert gierig naschend auf den Zweigen herumturnten. Im Vorgarten blühten in vielerlei Farben die Herbstastern, dazwischen vereinzelt noch der Phlox aber seine Zeit war schon nahezu vorbei. Der Sommer war vorüber, die Tage der Kälte und der Dunkelheit begannen ihre Vorboten zu schicken.

Meine Beste aller Ehefrauen kam in die Stube, drückte mir eine Schüssel in die Hand und gab mir den klaren und präzise formulierten Auftrag, in den Garten zu gehen und für den sonntäglichen Nachtisch Brombeeren zu pflücken. Obwohl ich aus Erfahrung wusste, dass solch ein Auftrag ohne Widerspruch und dazu noch unverzüglich ausgeführt werden musste, konnte ich es mir nicht verkneifen etwas von Sklavenarbeit und kaputten Rücken zu murmeln. Ein strafender Blick ließ mich zusammenschrecken und die restlichen Worte in meinem Munde verstummen.
Im Garten setzte ich mich zuerst, Ruhe benötigend, auf die Bank, zündete meine ausgegangene Pfeife wieder an und überlegte mein weiteres Vorgehen.
Wunderschön rot-orange blühte der Rosenbusch, das Netz der Kreuzspinne darin war zerrissen. Da wartet viel Arbeit auf die Achtfüßlerin, dachte ich. Der Phlox daneben war schon am verblühen, nur noch vereinzelte Blüten zeugten von der einstigen Pracht. Und plötzlich fiel mir auch auf dass keine Schwalben mehr die Luft in elegantem leichten Schwung durchsegelten. Auf den dunklen Blütenständen des Fuchsschwanzes ließ sich eine Blaumeise nieder, pickte sich ein paar Samenkörner und flog dann davon. Der Geruch des Herbstes lag in der Luft.
Die neben mir stehende Schüssel erinnerte mich an meinen wichtigen Auftrag und ich machte mich daran ihn gewissenhaft zu erfüllen, mir blieb ja auch nichts anderes übrig.
Beere um Beere der köstlichen schwarzen Früchte legte ich in die Schüssel hinein. Plötzlich merkte ich dass sich die Ranken der Brombeerhecke zu bewegen begannen, sie griffen nach mir, umschlängelten, umzingelten mich und mit sanfter aber sehr kräftiger Gewalt wurde ich hineingezogen in die Hecke, die immer größer und undurchdringlicher wurde. Natürlich suchte ich mich zu befreien aber es nützte nichts, die Ranken der Hecke entwickelten eine Kraft der ich nichts entgegenzusetzen hatte. Angst und ein Anflug von Panik machte sich in mir breit, mit einem Anflug von Galgenhumor begrüßte ich die Tatsache, dass die Hecke ohne Dornen war, sonst wäre ich vermutlich böse zerkratzt worden.
Dann, das mich dagegen sträuben und zappeln habe ich schon lange aufgegeben, schoben mich die Ranken auf der anderen Seite der Hecke hinaus.

Normalerweise wäre hier nun des Nachbarn Gemüsegarten, ich aber stand mitten auf einer Wiese die nicht grün war wie es sich für eine richtige Wiese gehörte, sondern tiefblau. Mein Erschrecken könnt ihr euch, geneigte Leser, sicherlich vorstellen. Wobei das Wort Erschrecken nicht im geringsten den Zustand genau umschreibt, indem ich mich nun befand, Angst und Panik wäre sicherlich treffendere Bezeichnungen.
Eine fröhliche, lustige Melodie, Gelächter und Singetanz wurde vom leichten Wind an mein Ohr getrieben. Es kam von dort drüben, von den Bäumen her. Hier stehen bleiben und langsam Wurzel schlagen hat auch keinen Sinn und nachdem ich meine Pfeife wieder entzündet hatte ging ich langsam und vorsichtig, dazu noch überaus ängstlich, auf die Melodie zu.
Neben den Bäumen, fremdartig und mir vollkommen unbekannt, tanzten in einem uralten Steinkreis mehrere Mädchen und Burschen zu einer sanften einschmeichelnden Weise einen fremdartigen Reigen.
"Hallo Fremder, komm zu uns," riefen sie mir zu als sie mich erblickten. Ein Mädchen, jung und schön, verließ den Reigen, kam auf mich zu ergriff meine Hand und führte mich hinein in den Kreis der Tanzenden. Ob ich wollte oder nicht, die Melodie ergriff mich und meine Füße begannen sich ganz von alleine im Rhythmus der Weise zu bewegen. Die Fröhlichkeit der Tanzenden war ansteckend und ich musste lauthals lachen, ein Gefühl des Glücks und der Vollkommenheit, der Erfülltheit durchströmte mich. Die Melodie wurde nun schneller, unsere Füße wirbelten auf dem Boden dahin, stampften den immer schneller und schneller werdenden Rhythmus, die Wiese, die Bäume, die Tanzenden begannen vor meinen Augen zu verschwimmen, ich wollte loslassen mich ausruhen, aber es ging nicht. Die Pfeife fiel aus meinem Mund, ich sah sie ins Gras fliegen, dann entschwand sie meinen Augen. Nochmals suchte ich mich zu befreien, aber es war ein vergebliches Unterfangen, eine Kraft die ich nicht kannte hielt mich in einem eisernen Klammergriff.
Immer schneller wurde der Tanz, immer wilder peitschte die Melodie die urplötzlich mit nie gehörten Tönen in sich zusammenbrach. Vielleicht kennt der geneigte Leser den Bolero von Maurice Ravel, genauso war es.
Ermattet und erschöpft sank ich zu Boden, die Welt drehte sich in meinem Kopf, mir war schrecklich schwindelig und es wurde schwarz vor meinen Augen.
Als ich dann irgendwann wieder zu mir kam befand ich mich wieder in meinem Garten, ich glaubte es jedenfalls. Fremdartig erschien er mir, alles das was mir vertraut war das gab es nicht mehr. Die Bank, der Holunderbaum, die Rosenbüsche und die Blumenbeete, verschwunden oder in einem Zustand der mir fremd war.
Eine alte Frau, gebeugt von der Last der Jahre und des Lebens kam auf mich zu. In ihrem Gesicht erkannte ich vertrautes, in vielen Jahren der Ehe liebgewonnenes. Und es durchfuhr mich ein kalter Schrecken der durch Mark und Bein ging als ich meine Beste aller Ehefrauen erkannte. Sie erkannte mich ebenfalls und ein namenloser entsetzlicher Schrecken war in ihren Augen zu sehen, sprachlos stumm legte sie die Hand vor den Mund und blieb wie zur Salzsäule erstarrt stehen.
In diesem Moment erkannte und begriff ich dass der Augenblick des Tanzes den ich in dieser anderen Welt verbrachte hier in der Wirklichkeit ein ganzes Leben dauerte. Mir wurde wiederum schwarz vor Augen und ich brach, niedergedrückt von der Wucht des Schicksals, zusammen.

Eine Hand rüttelte mich an der Schulter, heftig und ausdauernd. Eine vertraute Stimme sagte mit einem Unterton von größter Missbilligung: "Du sollst hier nicht schlafen sondern für den Nachtisch die Brombeeren pflücken."
Die Beste aller Guten stand kopfschüttelnd vor mir. Sie gab mir nochmals die Schüssel in die Hand, ermahnte mich zur Eile und ging mit einem gemurmelten "Männer" wieder ins Haus zurück.
Meine Pfeife war mir während ich schlief aus der Hand gefallen und lag im Gras, ich hob sie auf, wischte sie ab und entzündete sie erneut.
Es war nur ein Traumgesicht das mich in seinen Bann gezogen hat. Und ich war froh und glücklich darüber das es nicht Wirklichkeit war.
Als ich die Schüssel mit den Brombeeren schließlich in die Küche trug umarmte ich meine Beste.
"Hast du ein schlechtes Gewissen," ? fragte sie mich still lächelnd und fügte dann noch hinzu: "Die Pfeife könntest du dabei ruhig aus dem Mund nehmen."