Rauhnächte

von Joachim Acker

 

Das Wetter an diesem zweiten Weihnachtsfeiertag war einfach zum Fürchten und zum Davonlaufen. Es regnete in Strömen, dazu war es noch sehr mild, beinahe frühlingshaft. Ab und zu schaute die Sonne zwischen den Wolken hervor, ließ die nasse Gasse im Licht erglänzen, dann versank alles wieder in einem tristen Grau.

Mein Bleistift war an seinem Ende schon ziemlich abgekaut, denn ich versuchte schon seit geraumer Weile eine Geschichte zu Papier zu bringen. Leider kam bei diesem löblichen Versuch kein greifbares Ergebnis zustande. Meine Gedanken begannen zu wandern und ich erinnerte mich an ein anderes, schon längst der Vergangenheit angehörendes Weihnachten. Damals wie heute versuchte ich eine Geschichte zu schreiben.

Weihnachten, das Fest aller Feste, war nun vorüber und schon dabei, ganz langsam Erinnerung zu werden. Noch glaubte ich auf der Zunge den Geschmack des Stollen zu spüren, den Duft der Kerzen und der Tannennadeln zu riechen, bildete mir ein, die alten Weihnachtslieder zu hören. Aber dies alles gehörte schon ins Reich des beginnenden: Es war einmal.

Am Schreibtisch sitzend, meine erloschene Pfeife in der Hand und irgendwelchen Gedanken nachhängend, versuchte ich eine Geschichte niederzuschreiben. Ich schaute hinaus zum Fenster, sah die kahle Eberesche, im Vorgarten die dürren Stengel verblühter Blumen, sah heruntergefallenes und nicht weggekehrtes Laub und bemühte mich mit zunehmenden Eifer eine verwertbare Idee für eine Geschichte zu finden.

Es war ebenfalls ein ziemlich milder schneeloser Wintertag, der scharfe Wind treibt dunkle Wolken von irgendwoher ins Irgendwohin. Die Zweige des Vogelbeerbaumes bewegten sich in einem steten Takt: Auf und ab, hin und her. Eine Elster nahm für einen kurzen Augenblick Platz auf einem der wippenden Zweige, flatterte dann weiter einem Ziel entgegen das ich nicht kenne.

Mürrisch weil mir nichts einfiel, griff ich nach den Streichhölzern und zündete meine Pfeife wieder an, der Rauch erfüllte aromatisch duftend die Stube. Wieder sah ich zum Fenster hinaus auf die dahin segelnden Wolken. Wann werden sie endlich den Schnee bringen der zu einem richtigen Winter gehört? Die Dämmerung senkte sich bereits übers Land, bald würde die Nacht kommen.

Mir kamen die alten Geschichten unserer Vorfahren in den Sinn. Rauhnächte oder auch Rauchnächte, mancherorts auch Losnächte, nannte man einige mitwinterliche Nächte zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag. Nächte, die sagenumwoben waren, Brauchtumsnächte voller tiefer Geheimnisse und gleichzeitig auch Tage, die mit seltsamen Ritualen ausgefüllt und erfüllt waren.

Nur leise flüsternd, beinahe ängstlich, erzählten dann die Alten in den Kienspan erhellten Stuben ihrer kümmerlichen Hütten von der Wilden Jagd, die in den Wintersturmnächten über den Himmel dahinzog. Odins wildes Heer ritt da durch die Lüfte, schaurig und furchterregend anzusehen. Wehe dem, der da des Nachts noch unterwegs war und das reitende Heer erblickte. Es konnte durchaus sein, dass er im kommenden Jahr selber mit diesem verwegenen Haufen reiten musste. Daher war es besser man blieb in diesen Nächten im Hause vor dem wärmenden Kaminfeuer, da war Sicherheit und auch die Geborgenheit vor allem Unbill solch einer Nacht.
Es waren aber auch die Nächte und Tage, an denen der Bauer mit einem Räucherfass durch das Haus ging und alle Ecken und Winkel, alle Räume und Stuben, alle Ställe und Schuppen ausräucherte. Die bösen Geister, die sich möglicherweise im Gehöft aufhielten und zuweilen allerhand Schabernack zu treiben pflegten, sollten auf diese Art und Weise vertrieben werden. Ein uralter Brauch, geboren in heidnischer Vorzeit aber in manchen abgelegenen Landesteilen wurde und wird er immer noch ausgeübt.

Offensichtlich war auch so ein übler Geist in meiner Pfeife und trieb dort sein schändliches Unwesen, denn sie war schon wieder erloschen. Von neuem wurde sie entzündet und ich hing wieder meinen Gedanken nach.

An die Lostage dachte ich nun, auch die damit verbundenen Bräuche spielten im früheren Leben unserer Vorfahren eine besondere Rolle. Durch Wetterbeobachtung oder durch das Werfen der Runenstäbe an einem einsamen Ort wurde versucht, die Zukunft und das was sie mit sich bringt, vorherzusagen. Das beliebte Bleigießen in der Sylvesternacht hat in diesem alten Brauch seinen Ursprung. Ob man nun tatsächlich dadurch einen Einblick in das Kommende bekam, hing stark vom jeweiligen Glauben des Ausübenden ab. Nun, es ist altes Brauchtum und sollte nicht ganz in Vergessenheit geraten.

Der Wind hat deutlich aufgefrischt, er wirbelte vertrocknete Blätter durch die nun abenddunkle Gasse in der ich wohnte, von irgendwoher drang das stete Klappern eines lose hin und herschlagenden Fensterladens an mein Ohr und begann zu nerven.

Meine Pfeife war leergeraucht und ich begann eine Andere mit meinem Lieblingstabak zu füllen, zündete sie an und schaute dem Rauch nach wie er langsam durch die Stube zog.

In meiner Erinnerung tauchten die Bilder einer längst vergangenen Weihnacht auf die ich einst bei dem Bettelvolk erlebte und in die mir nicht gerade zur Ehre gereichte. Vielleicht erinnert ihr Euch daran, vor einiger Zeit habe ich davon erzählt.
Diese Erinnerung, die mir auch heute noch auf der Seele lag, zur Seite schiebend, besann ich mich wieder meines ursprünglichen Vorhabens: eine Geschichte zu schreiben. Aber mir fiel beim besten Willen nichts ein was irgendwie für ein solches Vorhaben verwendbar wäre. Es war wie verhext: je mehr ich mich anstrengte, desto leerer und zugleich wirrer wurden meine Gedanken, sie verdichteten sich zu unentwirrbaren Knäueln, zerstoben und kamen aufs neue in einem anderen Gewand wieder.

Missmutig und zunehmend übelgelaunt legte ich den Bleistift zur Seite, zog meine Schuhe und meinen Umhang an und begab mich trotz des immer schlechter werdenden Wetters in den Schwarzen Drachen.

Am Stammtisch, wie immer umwabert von mehr oder weniger wohlriechenden Rauchwolken, saßen der Schaufler und Fred, rauchten in aller Gemütsruhe ihre Pfeifen und tranken dazu ein Glas Most. Sie haben von ihren Eheherzallerliebsten für ein paar Stunden Ausgang erhalten, berichteten sie mir freudestrahlend und überaus glücklich, dabei von einem Ohr bis zum anderen grinsend. Noch lange saßen wir an diesem Abend zusammen, tauschten Gedanken und Erinnerungen an andere Weihnachten aus, erzählten uns diese oder jene lustige Begebenheit. Oftmals schwiegen wir auch, beschäftigten uns mit unseren Pfeifen, schauten den Rauchwolken nach und waren zufrieden, so zufrieden wie ein Mensch nur sein kann wenn er mit Freunden bei einem Glas Most und einer guten Pfeifenfüllung zusammen sitzt.

Es war schon spät als wir uns verabschiedeten und auf den Heimweg machten.
Der Wind war nun zum Sturm geworden er pfiff und heulte durch die menschenleeren Gassen, trieb Unrat und lose Blätter vor sich her. Irgendwo bellte ein Hund seinen Unmut oder auch seine Freude am Leben in die Nacht. Seltsam geformte Wolkenfetzen, im dunklen Nachthimmel nur schwer erkennbar, zogen über meinem Kopf hinweg und für einen kurzen Moment glaubte ich im Heulen des Sturmes und in den treibenden Wolken Odins Heer in seinem wilden Ritt zu erkennen. Dann war der Spuk vorüber, ein Trugbild war es, kein Grund zum fürchten. Dennoch war ich froh als ich mein kleines Häuschen erreichte und die Türe hinter mir in das Schloss klappte.

Mich von den Gedanken an Vergangenes lösend versuchte ich nun nochmals eine Geschichte zu Papier zu bringen, aber auch dieses Mal war es eine vergebliche Mühe, mein Kopf und meine Gedanken waren leer und blieben leer.