Sylvesterabend im "Schwarzen Drachen"

von Joachim Acker

 

 

Jetzt, nachdem ich mich von all dem Unheil etwas erholt habe, kann ich in aller Ruhe über das unlängst Geschehene nachdenken und versuchen, es zu Papier zu bringen. Eigentlich hätte ich all den Schrecken auf Grund meiner Erfahrung ahnen können, denn der Tag begann schon ausgesprochen mies.

Zuerst trat ich der Katze auf den Schwanz, die empört aufjaulend das Weite suchte und für den Rest des Tages unauffindbar blieb, dann ließ ich die Milch mit meinem Porridge überkochen und brauchte eine kleine Ewigkeit um den Herd zu reinigen. Und zu guter letzt schlug ich mir noch den Pfeifenkopf an der Kellertüre an, das wiederum mißfiel meinen Zähnen aufs Äußerste. Gewarnt, daß dies ein ausgesprochen schlechter Tag werden könnte, wäre ich also zur Genüge gewesen.

Wie immer feierten wir, der Stammtisch der Pfeifenraucher, im "Schwarzen Drachen" unser traditionelles Jahresausklangsfest. Dichtgedrängt um ein paar zusammengeschobene Tische saßen wir beieinander, der Rauch unserer Pfeifen durchwaberte die Gaststube, unser Gelächter war noch draußen auf der Gasse zu hören und das Scheppern der Mostkrüge wenn sie aneinandergestoßen wurden war die Melodie oder der Takt, wie man es nimmt, zu diesem fröhlichen Treffen.

Die Wirtin hat uns etwas äußerst leckeres gekocht, nicht den üblichen Eintopf wie ihr nun vielleicht denkt, oh nein, etwas weitaus wohlschmeckenderes: selbergemachte, geschmälzte Maultaschen in einer wunderbaren Brühe und dazu noch eine ganze Wanne mit ebenso köstlichem Kartoffelsalat. Ihr denkt, dies sei ein sehr einfaches schlichtes Mahl für eine Sylvesterfeier? Oh nein, hinter dieser vermeintlichen Schlichtheit verbirgt sich die höchste Kunst. Denn nichts ist schwieriger wie Maultaschen, die jeden zufrieden stellen sollen, selber anzufertigen, vom Kartoffelsalat will ich erst gar nicht reden. Aber ich möchte euch ja keinen langweilenden Vortrag über Kochkunst im Allgemeinen und im Besonderen halten sondern Euch als Chronist des Geschehens diesen Abend und seine Folgen nahe bringen.

Der Schreiber dieser Zeilen braucht wohl nicht zu betonen, dass wir da ordentlich zulangten, um es mal sehr vornehm, und ohne jemanden ob seiner Eßgewohnheiten wehzutun, zu umschreiben. Eine gewisse Zeitlang herrschte im Drachen eine wahrhaft gefräßige Stille, unterbrochen nur von leisen Schluckgeräuschen wenn sich einer der Freunde am Mostkrug labte und vom eifrigen Geklapper der Löffel, die sich im steten immer wiederkehrenden Takt: Teller-Mund-Teller-Mund bewegten.

Irgendwann waren dann die Schüsseln leer. Zufrieden und satt bis zum es geht nicht mehr lehnten wir schlapp in unseren Stühlen und begannen die Pfeifen zu stopfen und sie in Brand zu setzen. Dann, es ging langsam schon auf Mitternacht zu, die Stimmung stieg und stieg. Dies hatte natürlich auch seine Ursache im Mostverbrauch der langsam aber sicher ungeheure, noch nie gekannte Ausmaße annahm.

Ein, neben dem Festmahl, weiterer Höhepunkt des Abends wurde nun in Angriff genommen: die offizielle Begrüßung unseres neuen Stammtischfreundes Albert, den wir, weil er immer die Nase so merkwürdig hochzog, nur noch Schnuffi nannten. Er war schon einige Zeit Gast an unserem Stammtisch gewesen und hatte sich nun entschlossen, ein vollwertiges (was immer das auch bedeuten mag) Mitglied zu werden.

Trotz der schon fortgeschrittenen Stunde und einer nicht geringen Menge an Most gelang es Schnuffi dreimal unseren Wahlspruch "Rauch und Asche" vollkommen fehlerfrei zu sagen und war somit nach allen Regeln in unserer Runde mit großem Hallo, Jubelgeschrei und Schultergeklopfe aufgenommen. In seiner kleinen Dankesansprache verkündete nun Schnuffi, dass er zur Feier des Tages und dieses großen persönlichen Ereignisses in seinem Keller eine Feuerwerksrakete gebastelt habe, die er als Einstand zur Mitternacht zünden wollte. Diese Nachricht wurde natürlich mit großer Begeisterung vernommen und sofort lautstark bejubelt.

Nun, das Fest im Drachen nahm seinen Fortgang, es wurde geraucht dass die Pfeifen nahezu glühten, Scherze wurden lauthals belacht, Erinnerungen an das zu Ende gehende Jahr ausgetauscht, kurzum es war eine fröhliche Stimmung.
Mitternacht nahte und wir erhoben uns, manche waren durch das lange sitzen wohl etwas wackelig auf den Beinen, und gingen nach Draußen. Aus einem Handkarren den Schnuffi mitgebracht hatte hob derselbe einen langen, ofenrohrähnlichen Gegenstand heraus und stellte ihn auf das Pflaster der Gasse. "Meine Rakete!", verkündete er stolz, "Zusammengebastelt in meinem Keller nach einer uralten chinesischen Anleitung die ich in einer deutschen Übersetzung neulich beim Buchhändler kaufte. Hier und da musste ich sie ein bisschen verbessern und ergänzen, aber das war kein größeres Problem".

Mit einigen mitgebrachten Ziegelsteinen wurde dem Gebilde der nötige Halt verschafft und die Zündschnur ausgerollt. Da es noch etwas Zeit war bis zur mitternächtlichen Stunde ließen wir uns vom Wirt noch ein paar Krüge bringen und stärkten uns nocheinmal vor dem großen Ereignis.

Dann war es soweit: vom Kirchturm begann die große Glocke die Mitternachtsstunde zu schlagen und überall in der kleinen Stadt wurden nun die Raketen und Böller abgefeuert um das neue Jahr zu begrüßen. Mit einer großartigen, weitausholenden Geste zündete Schnuffi ein Streichholz an, beugte sich über die Lunte und zündete. Zischend und funkenwerfend begann die Schnur zu brennen. "Sieht gut aus" freute sich Schnuffi und trat einen Schritt zurück und stolperte dabei über die haltgebenden Ziegelsteine, die Rakete neigte sich und ging dann mit einem ohrenbetäubenden Fauchen los.

Mit einen Schweif aus Feuer und Rauch raste sie, wir konnten es ganz genau verfolgen, zum Marktbrunnen und traf die vergoldete Brunnenfigur genau in der Mitte. Die steinerne Figur, sie stellte übrigens den Hl. Michael dar und war ein Kleinod mittelalterlicher Bildhauerkunst, zerbarst in viele kleine Einzelstücke, die in weitem Umkreis wie ein Meteoritenschauer auf den Markplatz niederfielen. Die vielen Bewohner der Stadt die ebenfalls auf dem Platz waren, rannten Hals über Kopf in alle vier Himmelsrichtungen davon, es war nicht gerade eine Panik aber doch ziemlich nahe dran.
"Himmel hilf", hörte ich eine Stimme flüsternd sprechen, "wir habe den Marktbrunnen abgeschossen".
Die Rakete wurde durch den Aufprall mit der Brunnenfigur leider nicht zerstört. Sie änderte ihre Richtung und fauchte nun zischend und unheilverkündend zum Kirchturm, traf die Glocke die daraufhin einen sehr eigenartigen dumpfenTon von sich gab, prallte wiederum ab, zischte am Posaunenchor der auf der Turmbrüstung Aufstellung genommen hatte vorbei und fand im kleinen Türmchen des Rathausgiebels ihr Ende. Es war allerdings auch das Ende des zierlichen ebenfalls aus dem Mittelalter stammendenTürmchens. Die Zierde des Rathauses und mit ein vielfotografiertes Schmuckstück unserer Stadt zerlegte sich in seine Einzelteile.

Vermutlich ist es unnötig zu betonen, dass wir vom Stammtisch der Pfeifenraucher vor Schreck beinahe wie gelähmt waren, und unser liebes Neumitglied Schnuffi war sogar einem Kollaps nahe. Mit einem frischen Krug Most bauten wir sein aus den Fugen geratenes Raketenbastlerweltbild wieder etwas auf und brachten es ins Lot.

Mit Sirenengeheul und Alarmglockengebimmel traf die Feuerwehr ein und vergrößerte noch die Aufruhr, die nun in der sonst so friedlichen und beschaulichen Stadt herrschte. Die Obrigkeit in der Gestalt des Ortspolizisten kam voller Eifer und Pflichtbewusstsein angerannt. Der Gute stolperte über seine eigenen Füße, sein Hinfallen wurde nicht nur von uns belacht und beklatscht, dies zeugte von der nicht gerade großen Beliebtheit des Polizisten.

Den Rest der Nacht und den ganzen ersten Tag des neuen Jahres verbrachten wir in der Arrestzelle des Polizeireviers, nur die Ehegattinnen meiner Freunde durften, weil sie als unschuldig betrachtet wurden, nach Hause gehen. Bei der Gerichtsverhandlung die am ersten Werktag des Jahres unter großer Anteilnahme der Bevölkerung stattfand, wurden wir allesamt, mitgegangen ist auch mitgefangen, für schuldig erklärt. Die Strafe war hart, beinahe unmenschlich: zwei Wochen Arrest bei Wasser und Brot im städtischen Gefängnis, absolutes Pfeifenrauchverbot für diese Zeit und nach der Entlassung eine unbekannte Anzahl von Arbeitsstunden zum Wohle der Stadt und ihrer Bürger. Auf unsere Frage, ob es denn eine Bewährung geben würde, reagierte der Richter mit einem solchen Wutanfall, dass wir uns ernstlich Sorgen um seine Gesundheit machten.

Ich musste echt staunen, wieviele unanständige Wörter unser Richter doch kannte, und die Schnelligkeit mit der er sie aufsagte, war beeindruckend. "Woher kennt der alle diese Wörter"?, fragte ich den neben mir stehenden Schaufler, der zuckte aber nichtwissend nur mit den Schultern.

Ja, das war nun die Geschichte von der Sylvesterfeier des Pfeifenraucherstammtisches vom "Schwarzen Drachen", ich habe sie euch so genau und wahrheitsgetreu wie möglich erzählt. Wenn der geneigte Leser irgendwann einmal für eine gewisse Zeit nichts mehr hört von mir, dann weiß er, dass ich in der Zelle meine Strafe verbüße.

Etwas Gutes hatte aber diese ganze Affäre: noch lange danach wurden in den Gassen der Stadt Bruchstücke von der Figur und dem Türmchen gefunden und an die Touristen, die des Sommers unsere Stadt besuchten, verkauft.