In der Zelle

von Joachim Acker

 

 

Wenn Sie, lieber Leser, einmal in unsere Stadt kommen und einen Spaziergang durch die stillen, verträumten Gassen mit ihren holprigen Kopfsteinpflaster machen, dann versäumen sie nicht, zum Fluß hinab zu gehen um die Enten und Schwäne zu füttern. Frische Salatblätter fressen sie aufs Leben gern, Wurst gleich welcher Art mögen sie nicht so besonders, dies sei aber nur am Rande und nicht zur Geschichte gehörend gesagt.

Setzen Sie sich ein bisschen hin, zünden Sie sich eine Pfeife an, schauen Sie den Rauchwolken nach und hören Sie was der Fluß Ihnen zu sagen hat. Er weiß viel zu erzählen der Fluß, obwohl er noch ziemlich jung ist hat er doch schon manches erlebt und gesehen. Seien sie ganz still und hören Sie auf den Fluß. Hören Sie ihn?

Dort unten am Fluß, am leise murmelnden Wasser, haben Sie auch einen wunderbaren Blick auf die uralte, aus Backsteinen errichtete Stadtmauer, wehrhaft und etwas abweisend, ja abwehrend, sieht sie aus und steht sie da, aber dies sollte ja auch der Zweck einer Stadtmauer sein. Der Turm den Sie da in einiger Entfernung sehen, ja genau: der da hinten, den meine ich, ist etwas schief geraten, seine Fundamente haben sich etwas gesenkt. Er steht zwar nicht ganz so schief wie derjenige in Pisa aber immerhin ist er doch ganz schön schief. Aber keine Angst, er fällt nicht um. Treten Sie ruhig ein Stückchen näher, Sie brauchen wirklich keine Angst haben, er fällt nicht um. Betrachten Sie das alte Gemäuer, angenagt vom Zahn der Zeit, verwittert und an manchen Stellen mit Grünzeug bewachsen. Sehen Sie die schmalen, vergitterten Fensterchen, die hervorstehenden Erker, das schiefergedeckte Dach? Sehen sie auch das kleine Fensterchen ganz oben rechts? Das ist meine Zelle.

Denn dieser Turm ist seit altersher das Gefängnis der kleinen Stadt und ich nebst meinen Freunden vom Pfeifenraucherstammtisch des "Schwarzen Drachen" sind im Moment dort eingekerkert. Wir verbüßen dort unsere Strafe weil wir den Marktbrunnen und den Giebel des Rathauses mutwillig, wie es der Richter beliebte zu formulieren, zerstört haben. Anfangs war uns auch das Pfeiferauchen während der Haft, zwei Wochen bekamen wir aufgebrummt, verboten. Weil uns aber der Richter während der Verhandlung ziemlich böse beschimpfte, erlies er uns diese Pein. Finde ich echt nett von dem Richter, noch ein paar Schimpfwörter mehr und er hätte uns vielleicht die Strafe ganz erlassen, wer weiß?

Nun, es war der dritte Tag den ich nun schon in dieser engen Zelle verbrachte, dazu noch ganz alleine und bei Wasser und Brot. Aber wenigstens ein paar Pfeifen und ausreichend Tabak hatte ich bei mir, das war doch schon die halbe Miete. Meine Zelle war angefüllt mit dem köstlichsten Duft den ein Tabak nur verströmen kann. Der Wärter allerdings, der mich mit dem überaus kargen Mahl zu versorgen hatte, ein Ignorant wie er im Buche stand, nörgelte allerdings immer herum an dem Geruch. Ein Ignorant eben und Nichtraucher noch dazu. Was soll man dazu noch sagen?
Mit der Zeit wurde es allerdings doch etwas langweilig in diesem Kerkerloch, fünf Schritte lang, vier Schritte breit, wie hoch der Raum war konnte ich nicht sagen, eine Senkrechte hochlaufen bereitet mir doch etwas Schwierigkeiten, aber es dürften gut vier Schritte gewesen sein.

Die Inschriften, die mit allerhand spitzen Gegenständen in die Wände gekratzt wurden, kannte ich inzwischen auch beinahe auswendig. Einige waren darunter deren Wiedergabe mein sittliches Empfinden verbietet, aber auch Zeugnisse und Bekenntnisse die mich seltsam berührten. Eingeständnisse der Schuld und die Bitte um Vergebung oder um Gnade. Namen waren zu lesen, Jahreszahlen, an einigen Stellen geheimnisvolle Symbole. Durch dies alles sprach die Wand zu mir und ich hörte ihr zu, ich vernahm die Schicksale mancher der armen Sünder die hier eingekerkert waren, hörte ihr Stöhnen und jammervolles Weinen, vernahm ihr Leid.
Oft stand ich am engen vergitterten Fenster, es war ziemlich weit oben angebracht und ich musste mich auf die Zehenspitzen stellen um hinausschauen zu können. Die Feststellung: es ist ein Zimmer mit Aussicht, entsprach sogar den Tatsachen, allerdings dürfte der Begriff Zimmer nicht zu übertrieben interpretiert werden.
Weit schweifte dann mein Blick übers Land das ich so sehr liebte. Dort drüben der Galgenberg auf dem in früheren Zeiten die Missetäter hingerichtet wurden, rechts daneben, getrennt durch ein kleines Tal der Friedhofshügel und dann die weite, fruchtbare Ebene, Bäume sah ich und abgeerntete Felder. Ein schönes Land, ein gesegnetes Land.

Ja, so verging die Zeit, aber unendlich langsam und träge. Fünf Schritte in die Länge, vier Schritte in die Breite, ein Blick hinaus zum Fenster, da dehnten sich die Minuten zu Stunden. Dazu war es noch kalt, es war ja mitten im Winter. Das kleine altertümliche Öfchen, vom Wärter jeden Morgen entzündet und geschürt, brachte nicht besonders viel Wärme in den Raum, aber es war besser als gar nichts.

Am vierten Tag erhielt ich Gesellschaft: Ein kleines graues Mäuschen verirrte sich in mein Verlies. Das heißt, sie verirrte sich nicht, denn eigentlich gehörte diese Zelle dem kleinen Nager, sie wohnte hier in einem Mauerloch, ich habe sie nur noch nicht bemerkt weil sie nur in der Dunkelheit herumhuschte.

Ohne vor mir Angst zu haben setzte sie sich in einigen Abstand auf den Steinboden, putzte sich mit den Vorderpfoten die Schnauze und sprach zu mir: "Gibst du mir ein bisschen von deinem Brot?" Als ich diese Worte hörte dachte ich zuerst ich würde den Kerkerkoller bekommen, eine Maus ist eine Maus und Mäuse fiepen aber sie sprechen nicht. "Du Narr" sagte das Mäuschen zu mir, "freilich sprechen Mäuse. warum auch nicht? Nur ihr Menschen könnt es nicht hören weil ihr immer so laut seid und gleich mit einem Gegenstand nach uns werft, wenn ihr uns irgendwo seht."
Das Bröckelchen Brot, dass ich der Kleinen hinwarf, wurde sofort geschnappt, ins Mauerloch getragen und dort sicherlich für den späteren Verzehr aufbewahrt, denn das Mäuschen war umgehend wieder da und fragte mich warum und weswegen und für wielange ich denn hier inhaftiert wäre. Die Maus hörte sich meine Geschichte mit ungläubigen Staunen an und schüttelte fortwährend den Kopf dabei. "So dumm und unvorsichtig können nur die Zweibeiner sein" murmelte sie und putzte sich wieder die Schnauze mit den Vorderpfoten.

Von da an hatte ich Gesellschaft in meinem Kerker, denn hin und wieder kam das Mäuschen vorbei, nahm seine Brotration in Empfang und wir unterhielten uns ein bisschen. Nicht gerade über weltbewegende oder gar philosophische Dinge, oh nein, es waren einfache Gespräche wie sich halt Mäuse mit Menschen oder umgekehrt zu unterhalten pflegen.
Und eines Tages erzählte mir meine kleine Freundin auch wie dieser Turm in seine schiefe Lage kam, das war nämlich so:
Vor undenklichen Zeiten war einmal ein Müller, ein schrecklich dicker Müller im übrigen, hier inhaftiert. Er hatte beim Mahlen immer wieder geschummelt und wurde von mißtrauisch gewordenen Bauern ertappt und bei der Obrigkeit zur Anzeige gebracht. Und weil man bei solchen Vergehen nicht lange fackelte und auch sonst nicht zimperlich war, wurde er kurzerhand zum Tode verurteilt und hier im Turm eingesperrt bis seine letzte Stunde auf Erden gekommen sei. Ja, da saß der dicke Müller nun, rauchte aus einer Tonpfeife billigen Landtabak und wartete auf den Tag da der Nachrichter erscheinen würde um ihn abzuholen zum allerletzten Gang.
An einem düsteren verregneten Herbstmorgen nahte dann diese Stunde, die Tür der Zelle öffnete sich, der Scharfrichter in seinem roten Kapuzenumhang trat ein. Ein schrecklicher Anblick war es für den Müller und entsetzt sprang er in eine Ecke des Turmes der sich ob des plötzlichen Gewichtes zur Seite neigte und fortan so schief dasteht wie Ihr es heute noch sehen könnt.
Ich weiß natürlich nicht ob es sich wirklich so zugetragen hat, aber so erzählte es mir das Mäuschen und die weiß es von ihren Vorfahren, die seit vielen Generationen hier im Turm zu Hause waren. Warum sollte es also nicht so gewesen sein?

Ich erwachte, weil mir etwas helles und sehr grelles ins Gesicht leuchtete. Verwirrt schaute ich mich um, statt in der inzwischen vertrauten Kerkerzelle fand ich mich in einem Krankenzimmer wieder. Eine weißgekleidete junge Lernschwester beugte sich über mich und sagte zu irgendjemandem: "Er ist wieder zu sich gekommen".
Der von der Oberschwester herbeigerufene Arzt klärte mich dann auf: ich sei während meiner Haft krank geworden und hätte hohes Fieber bekommen. Im Fieberwahn hätte ich immer wieder von einem Mäuschen geredet das mich scheinbar täglich in meiner Abgeschiedenheit besucht hätte und die meine Freundin geworden wäre und mit der ich mich wie mit einem Menschen unterhalten hätte.

Bis zum heutigen Tag weiß ich nicht, ob meine Bekanntschaft mit dem Mäuschen ein Fiebertraum oder ob es eine von mir selber erlebte Wirklichkeit war. Meine Bitte nochmals einen Tag und eine Nacht im Turm zu verbringen, wurde, als ich die Gründe für mein Vorhaben nannte, lächelnd und kopfschüttelnd abgewiesen.
Mehrere Tage später fing ich aber eine Maus in meinem Keller. Sie saß in der aufgestellten Falle und fiepte ganz jämmerlich. Vorsichtig wurde sie befreit und ich sagte zu ihr, dass sie dafür sorgen soll, dass dem Mäuschen im Gefängnisturm mitgeteilt würde, dass ich, ihr Freund für eine kurze Zeit, wieder gesund und munter zu Hause sei. Die Maus schaute mich an, putzte sich nach Mäuseart die Schnauze und verschwand in einem Loch in der Mauer. Mir war es aber, als ob sie mich verstanden hätte.