Der Maibaum

von Joachim Acker

 

Seit undenklichen Zeiten die schon lange in Vergessenheit geraten sind ist es in unserer kleinen Stadt heiliger Brauch am Abend der Walpurgisnacht einen geschmückten Maibaum aufzustellen. Es ist üblich, dass der Baum, eine möglichst hohe und gerade gewachsenen Fichte, im Stadtwald von den Bediensteten der Gemeinde gefällt und vorbereitet wird, um ihn dann in feierlichen Zug in die Stadt zu transportieren.

Im Wechsel mit anderen Vereinen war nun dieses Jahr der Pfeifenraucherstammtisch des >Schwarzen Drachen< für diese höchst ehrenvolle Aufgabe an der Reihe, was uns alle natürlich mit unbändigem Stolz erfüllte.
Nachdem wir uns nochmals ausgiebig an einem Becher Most gelabt hatten wuchteten wir den bis auf das Wipfelteil entasteten Stamm auf zwei Leiterwagen, banden ihn mit kräftigen Seilen fest und dann ging’s los. Dem dicken Fred wurde die Lenkung des Gefährtes anvertraut und wir schoben mit aller Kraft, mussten aber immer wieder abbremsen weil wir sonst dem vor uns hermarschierenden Spielmannszug der Feuerwehr in die Füße gefahren wären.

Werte Leser, habt ihr schon mal die Weisen des Spielmannszuges gehört? Noch nicht? Dann seit froh, etwas misstönenderes und grässlicheres als dies Gefiepe, Gejaule und Geschetter gibt’s wohl kein zweites Mal in unserem Tal. Es war die reinste Harmonieverhöhnung, ein Missbrauch jeglicher musikalischer Gefühle. Bereits nach wenigen hundert Metern dröhnten uns schon die Ohren und wir machten eine kleine Pause um durch einen Schluck aus dem Becher unser inneres Gleichgewicht wieder zu finden. Das bei alledem die Pfeifen kräftig rauchten versteht sich von selbst und bedarf eigentlich keiner Betonung.

Eine letzte Kurve noch die wir gekonnt und nahezu meisterlich hinter uns brachten und dann lag die lange, sich etwas senkende, Marktstrasse vor uns an deren Ende nochmals eine kleine Biegung auf uns lauerte und dann das Ziel, der Marktplatz.
Bis hierher ging alles gut aber dann begann das Unheil. Das Gefährt bekam plötzlich auf der abschüssigen Strasse mehr Fahrt und wir vermochten es mit aller Anstrengung nicht mehr zu bremsen, mit Gerumpel schoss der Maibaum immer schneller werdend geradewegs die Strasse hinab.
Trotz allem Schrecken mussten wir lachen denn es war ein köstlicher Anblick wie Fred vor dem Baum herrannte um nicht überfahren zu werden und sich mit einem tollkühnen, beinahe olympiareifen Satz seitwärts in Sicherheit brachte.
Glassplitternd traf dann der Baum die Schaufensterfront von >Johannes Müller, Feine Wurst- und Fleischwaren<, und weil es ein Eckhaus war, das etwas in die Strasse hineingebaut war, schaute der Wipfel, nun doch etwas mitgenommen, zum anderen Schaufenster hinaus. Welch ein Anblick bot sich uns und den Zuschauern die zum Glück unbeschadet blieben: Wurstringe und ein paar saftige Schinken hingen von den Zweigen, und obendrauf thronte ein Schweinskopf der eigentlich zu Sülze verarbeitet werden sollte nun aber dem Baum eine gewisse festliche und feierliche Note gab.
Ohweh, sagte der Schaufler, das gibt Ärger. Und in der Tat, der Metzgermeister Müller war alles andere als erfreut als er sich vom ersten Schrecken erholt hatte und das Chaos, in das sein geliebter und nun renovierungsbedürftiger Laden verwandelt wurde, erblickte.

Sein Gesicht lief purpurrot an und aus seinem Mund kamen irgendwelche total undeutbare Urlaute die offensichtlich ziemlich wüstes Geschimpfe waren. Erika, das Lehrmädchen wedelte ihm mit eine Lappen Luft zu um einen drohenden Kollaps ihres Meisters zu verhindern. Als dann Eugen fragte wo er den Schweinskopf hinlegen sollte bekam Johannes einen Anfall und wollte Eugen anspringen, mit vereinten Kräften konnten wir den fülligen Metzger gerade noch von dieser unüberlegten Tat abhalten.

Nun, alles Jammern und Klagen hilft nicht, der Baum musste an seinen Bestimmungsort und unter dem Beifall der begeisterten Zuschauer, die dieses Jahr voll auf ihre Kosten kamen, machten wir uns erneut auf den Weg. Endlich erreichten wir den Marktplatz, luden den Baum ab, stärkten uns wieder, zündeten unsere Pfeifen an und dann begann der allerschwerste Teil unserer Aufgabe: Das Aufstellen des Baumes und das befestigen desselben in dem dafür vorgesehen Loch.
Mit Seilen und Stangen, viel Muskelarbeit, Gezerre hierhin, Geschiebe dahin wuchteten wir den stattlichen Baum in die Höhe. Bei alledem spielte der Spielmannszug aus vollen Backen aufmunternde Lieder und Märsche und dies mit einer Hingabe die seinesgleichen sucht. Uns aber, und sicherlich auch vielen Zuschauern, ging dieses Gedudel echt auf die Nerven.
Beinahe hätten wir es geschafft, der Baum stand schon senkrecht, allerdings von seiner Halterung gut einen Meter entfernt. Wir zerrten nochmals, ein vermutlich schadhaftes Seil riss und der Baum begann sich zu neigen. Erst langsam, beinahe im Zeitlupentempo und dann immer schneller werdend traf er das Glockentürmchen des Rathauses und wischte es vom Dach, Dachziegeln fielen scheppernd zu Boden, Staub stieg auf, zu Tode erschrockene Tauben und Spatzen suchten ihr Heil in jäher Flucht, mit klirrenden Gebimmel schlug die Glocke auf dem Pflaster des Marktplatzes auf, hopste ein paarmal auf und ab wie ein Gummiball und kam dann scheppernd zur Ruhe. Schwanengesang einer Glocke, dachte ich mir.
Ein knackendes splitterndes Geräusch war zu hören als die Dachbalken des Rathauses brachen, wippend kam der Wipfel des Baumes inmitten des zertrümmerten Dachecks zu liegen.
Ihr könnt euch vorstellen wie groß der Schrecken war, der uns da wie ein glühendes Schwert durch Mark und Bein fuhr.
Wiederum war es Glück im Unglück dass es keine Verletzten gab, darüber waren wir natürlich sehr froh.

Nun war guter Rat teuer, was sollten wir tun? Mit verzweifelnden Blicken schauten wir uns an und schickten dann Schnuffi in den Drachen damit er uns allen ein paar Krüge Most zur Stärkung bringt. Er kam auch schnell zurück allerdings wargelte er ein ganzes Fass vor sich her und sagte dann, dass er keine Krüge bekommen hätte, wir würden schon wissen warum. In dieser allergrößten Not kamen uns die Mannen der Feuerwehr und der Kleintierzüchter zu Hilfe und in trefflicher Zusammenarbeit gelang es uns den Baum vom Dach zu heben und ihn schließlich nahezu perfekt an seinem Platz zu verankern.

Nun stand der Baum und wir blickten doch irgendwie stolz und erleichtert in die Höhe, da durchfuhr uns neuer Schrecken. Der nun durch das Ungemach etwas zerfledderte Wipfel war bar jedes Schmuckes, wir hatten in der Aufregung das Wichtigste vergessen. Aber auch hier erwiesen sich die Männer der Feuerwehr als wahre Helfer in der Not, mit der großen Drehleiter wurde das Versäumte nachgeholt.

Dann, nach all dem Schrecken und der Aufregung begann inmitten des Platzes und zu Füßen des wunderschön anzusehenden Maibaumes das große Feiern. Seinen Höhepunkt hatte das Fest als die als Hexen verkleideten Damen des Jungfrauenchores mit großen Besen durch die Menge wuselten und allerhand Schabernack trieben. Die Hexen Macbeths oder diejenigen von Tam O´Shanter hätten bei diesem Anblick ihre wahre Freude gehabt und wären sicherlich in Verzückung geraten.

Als dann lange nach Mitternacht der splitterfasernackige und höchst mostselige Bürgermeister vom Marktbrunnen einen Hechtsprung ins Wasser machen wollte, kannte die Begeisterung der noch verbliebenen Gäste keine Grenzen mehr. Aus dem Hechter wurde leider nur ein kümmerlicher Bauchpflatscher, der zudem nicht im Wasser landete, sondern knapp daneben. Sichtlich mitgenommen und nun etwas verwirrt kam der Gute wieder auf die Beine, murmelte etwas vor sich hin lachte kichernd und glucksend, dann legte er sich ein zweites Mal zu Boden um alsbald laut schnarchend ins Land der Träume und des Vergessens zu verschwinden.

Für uns vom Pfeifenraucherstammtisch hatte das ganze Geschehen allerdings ein doch etwa betrübliches Nachspiel, denn wir wurden am folgenden Werktag von unserem Richter wegen grob fahrlässiger Zerstörung privaten und öffentlichen Eigentums sowie Gefährdung der Bürger und der Gemeinde zu 5 Tagen Dauerarrest im Turm verurteilt und mussten die Strafe noch am gleichen Tag antreten.

In eine alte Decke gehüllt, die sicherlich schon Tausenden von Motten als Heimat gedient hat, stehe ich nun Pfeife rauchend am vergitterten Fenster meines Kerkerloches und schaue hinunter auf die Dächer der kleinen Stadt, die von der untergehenden Sonne beschienen, rotglühend aufleuchten.