Von der Wurzel bis zur Pfeife

Lothar Winands

 

Ein Pfeifenbauer bestellte bei mir vor einigen Wochen Holz und da ich die Reise über den Jahreswechsel ohne Fahrzeug unternahm, besprach ich mit meinem Clubkollegen Toni wie das wohl zu organisieren sei, in das abgelegene Tal der Pyrenäen zu kommen.

Toni erklärte sich sofort bereit diese Fahrt gemeinsam zu machen und so trafen wir uns an einem Samstagmorgen zum Frühstück am Meer

Der in Deutschland weniger bekannte Toni Pasqual ist mehrmaliger spanischer Meister bei den „Fumadas lenta“, Vierter der diesjährigen WM in Barcelona und mit einer Sammlung von mehr als 3500 Pfeifen einer der grössten Sammler auf der iberischen Halbinsel. Zu seiner Sammlung zählen über 1000 Dunhill-Pfeifen, die bis in die Gründerzeit dieser Firma zurückreichen. Er bereiste in den letzten Jahren den gesamten Mittelmeerraum und hat eine wissenschaftliche Aufzeichnung über die Qualität, Ver- und Bearbeitung der Erika Arborea in den jeweiligen Ländern für die Akademie Pipier in Paris geschrieben.

Nach einer herzhaften Stärkung mit Jamon Iberico und Vino Tinto ging es zuerst über die Autobahn Richtung Norden um dann die herrliche Landschaft auf Nebenstrassen bis zum Ziel zu geniessen. Jean Pierre war ob der Überraschung unseres Besuches hoch erfreut und das Wühlen in den Bruyere-Kanteln konnte beginnen.

Voller Stolz zeigt Jean Pierre immer seinen Keller, wo auf dem Erdboden in einem dunklen Raum seine mit Planen abgedeckten Bruyere-Knollen lagern.

Es dauert viele Wochen bis das Wachstum unter ständiger Bewässerung und absoluter Dunkelheit abgestorben ist. Danach werden die Wurzeln in einem überdimensionalen Bottich bei einer Temperatur von 36-38 Grad gesotten.

Dieser Prozess dauert mindestens 14 Stunden. Das ist dann immer die Nacht, die bei Jean Pierre zum Tage wird. Der Lebensinhalt eines Coupeurs ähnelt ein wenig dem eines Landwirtes. In Ferien kann er nie fahren, denn das Holz muss ständig bewässert, abgedeckt, belüftet und vor extremer Sommerhitze bewahrt werden. Dies kann er auch nicht für kurze Zeit einer Vertretung übergeben, denn nur er kennt sich in dem Lagerungskreislauf seiner unschätzbaren Menge von Bruyere-Kanteln unterschiedlicher Grössen aus. Betrachtet man die Wurzeln und vergleicht die Größe eines Prachtexemplares von 40 Kilo mit einer fertigen Pfeife,drängt sich sofort die Frage nach der möglichen Menge an Pfeifen auf, die aus solch einem Bollen geschnitten werden können. Jean Pierre: „Bei einem Maximum an gleichmässigem Wachstum 10 Duzend CMF 3-4.“

Hier stutzte ich, denn diese Formulierung über eine Anzahl Holzkanteln hatte ich noch nie gehört. Toni hielt dann, bevor wir uns zum Mittagstisch begaben, auch noch seine Pfeife an eine grosse Knolle. Jean Pierre meinte, davon könnten wohl 20 Dutzend CMP 1-3 geschnitten werden können.

„Wieviel? Quantos?“ fragte ich neugierig und verständnislos und wollte wissen was in dieser Branche unter Marseillais, Relevé und Carré verstanden wird und was man sich unter den seltsamen Bezeichnungen vorstellen kann, mit denen Toni und Jean Pierre sich im Holzlager verständigten.


Jean Pierre der sonst immer, wenn es um das Thema seines Metiers geht, recht verschlossen ist, holte umgehend Unterlagen und seltsame Werkzeuge aus seiner Werkstatt. Toni, « Mitglied der Academie internacional de Pipier de Paris und Confrére de las Maitres Pipier von St. Claude » forderte zur Erklärung nun alle Schablonen die Jean Pierre zur Bestimmung der Masse in seiner Werkstatt neben der Kreissäge liegen hat.

Ich brauchte wirklich eine Weile, bis ich begriff, dass das maximale Füllvolumen des Jutesackes in den die Kanteln verpackt und verschickt werden, die Mengenbezeichnung der jeweiligen Grösse eines Kantel darstellen. Das bedeutet bei dem Mass (Siehe Aufstellung in der Abbildung) R 1 ¼ ( R = Relevé), dass von dieser Grösse 108 Dutzend, also 1295 Kanteln hinein passen. Das ist auch dann die Mindestbestellmenge dieser Position für die Pfeifenfabrikation. Geht man auf der Tabelle weiter nach unten, dann passen in den Sack von der Position M 1-2 ( M = Marseillais ) 60 Dutzend, also 720 Stück. Damit dies für mich als „Greenhorn“ ein wenig anschaulicher wird zeichnete Toni dies als Skizze auf einem Block auf.

Klar, die Zeichnungen sind nicht aus der Designschule und der „Carlos Primero Cognac“ zeigte hierbei auch schon etwas Wirkung, aber ich hatte es kapiert und das will durchaus etwas heissen. Damit die Kanteln dann auch genügend Platz in dem Sack finden gibt es ein interessantes Werkzeug zum Verdichten.

Nachfolgend die Messwerkzeuge und Schablonen, die dem Coupeur dazu dienen, die Massvorgaben einzuhalten:

Masslehre für Carres, Masslehre für Marseillaise

Masslehre für Releves, Masslehre für Grossbritannien

Da die britischen und amerikanischen Betriebe mit anderen Masseinheiten agieren müssen diese Werkzeuge auch in deren Massen als Schablonen vorgehalten werden.

Maria, die Frau von Jean Pierre hatte in der Zwischenzeit schon üppig aufgekocht und ihre katalanischen Schmankerln übertrafen in Menge und Qualität die Gerichte der ansässigen Restaurants. Nach Wein und Bier zum Essen stellte sie dann zum Dessert noch drei hochprozentige Flaschen auf den Tisch und auch hier wurde reichlich eingeschenkt. Alsbald lagen unzählige Pfeifen auf dem Tisch und es wurde, wie immer wenn sich ein paar Piperos treffen, kreuz und quer das Thema No. 1 diskutiert.

Jean Pierre und Toni

An diesem Nachmittag erfuhr ich noch viel über das Geschäft der Coupeure und vor allem auch von den Personen, die solche Knollen aus dem Wald klopfen. Hierbei wurde mir auch von den Restriktionen in den jeweiligen Anrainerländern rund um das Mittelmeer Informationen zu Teil. In Frankreich sind einige Lizenzen dazu nötig. Dies ähnelt fast schon dem Jagdschein um Knollen zu ernten. Strikt verboten ist das Ausreissen und auch das maschinelle Ernten. Die Erika Arborea gibt es in über 1000 Arten und sie wächst wie ein Unkraut auch nach der Entnahme der Knolle wieder nach.


Interessant ist, dass sich die Wurzelverdickungen an diesem Gewächs nur im Mittelmeerraum bilden. Dieses Wachstum reicht ungefähr bis 60 Kilometer in das Land hinein. Geerntet wird überall von Ägypten über Algerien und an der türkischen und jugoslawischen Küste entlang.

Seit etlichen Jahren herrscht auch hier die Globalisierung und so kommen die Knollen auch aus Ländern, deren Einfuhr zuvor zollbeschränkt war. Viele haben probiert die Erica Arborea in ihren eigenen Ländern, wie Japan oder in den USA zu züchten. Die Japaner gruben immer wieder Wurzeln aus dem Mittelmeerraum aus und pflanzten sie in ihren Breitengraden an. Doch der Erfolg stellte sich nie ein.

Coupeure gibt es nur noch ganz wenige und so werden die Wurzeln nachdem sie abgestorben sind kreuz und quer durch Europa geliefert, um in den wenigen Betrieben nach den oben beschriebenen Massen geschnitten zu werden. Je weiter südlich die Knolle aus dem Boden gegraben wird, desto weicher, aber auch leichter ist sie. Beim Köcheln der Wurzelknollen geben die Lieferanten gerne Soda oder Salzzusätze dem Wasser bei um das Holz zu härten und widerstandsfähiger gegen die Glut zu machen. Dies bewirkt dann beim Endprodukt, der Pfeife, eine längere Einrauchphase bis der Tabakgeschmack zur Entfaltung kommt. Dies ist wiederum ein Hauptgrund für die Einrauchpasten- oder Wasserglasbeschichtungen des Brennraumes. Einerseits schützt die Beschichtung das Holz der Pfeife gegen ein mögliches Durchbrennen, andererseits wird während der Einrauchphase der penetrante Geschmack des präparierten Holzes gemildert. Die Zusätze bewirken außerdem noch eine Aufhellung des Holzes.

Vor Jahrzehnten kam der überwiegende Teil des Holzes aus den Regionen Frankreichs, Spanien und Norditalien. 60 000 Tonnen verarbeiteten die Betriebe in St. Claude jährlich davon. Jean Pierre hat den Betrieb in dritter Generation seit 1890 und weiss deshalb, wovon er spricht. Bis in das Jahr 1940 wurden dort auch als Endprodukt mit 20 Mitarbeitern Pfeifen produziert.

Betrachtet man den Querschnitt einer Wurzel und die ausgeschnittenen Plateaustücke sowie die Kanteln in der entsprechenden Massgrösse, dann wird klar, welch hohe Fertigkeit hinter diesem Handwerk steckt um bei dem runden Bollen, den man aus der Erde gehackt hat, die richtigen Schnitte zu setzen um die maximale Anzahl an verarbeitungsfähigem Material zu gewinnen. Hat man die fertige Pfeife dann in der Hand, kann man sich den Aufwand hierfür kaum vorstellen.

Am kommenden Sonntag sass ich dann bei José und genoss die Sonne Spaniens, dachte über das neu gewonnen Wissen nach und machte Notizen für diesen Bericht während der „Capstan medium“ in meiner Pfeife glimmte.


23. Januar 2004